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Europa und der Tanz auf dem Vulkan

  • katjabanik
  • 4 days ago
  • 8 min read

von Dr. Katja Banik


Bei aller Kriegsrhetorik heutzutage, die nicht nur aus Russland, sondern auch aus der sogenannten westlichen Wertegemeinschaft kommt, könnte man leicht den Eindruck gewinnen, dass versucht wird auszutesten, ob die NATO noch funktionstüchtig ist. Wird Artikel 5 des NATO-Vertrags auch wirklich umgesetzt? In anderen Worten, werden die anderen Mitgliedsstaaten einem angegriffenen Land Beistand leisten?


Die ständigen Provokationen sind ein gefährliches Spiel mit dem Feuer. Denn vielleicht wird es Vladimir Putin irgendwann doch austesten wollen, vielleicht schickt er doch Panzer über die Grenzen nach Polen in Richtung Deutschland, oder vielleicht greift Russland Litauen an. Wollen wir das wirklich riskieren?


Die ganz große Show

 

Vorhang auf: Längst sind wir in der multipolaren Weltordnung angekommen. Vorbei ist die Zeit der US-Hegemonie. Die westliche Vormachtstellung ist Geschichte. Besonders schwer fällt es der politischen Bürokratenriege, beispielsweise in der EU sowie in den europäischen Regierungen, dieses neue Gleichgewicht anzuerkennen und entsprechend zu handeln. Weiterhin werden wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland verabschiedet, obwohl diese eher der europäischen Wirtschaft schaden als Russland selbst.

Aber keiner lässt sich gerne unter Druck setzen, auch Russland nicht, ein Land, das nicht nur reich an Rohstoffen, sondern auch eine Atommacht ist. Europa tanzt auf einem Vulkan. Wollen wir wirklich das erleben, was unsere Eltern bzw. unsere Großeltern durchgemacht haben?

 

Grotesk und gefährlich erscheint die dauerhafte Stationierung der Panzerbrigade 45 der Bundeswehr in Litauen. Fünftausend Soldaten und Soldatinnen sollen es werden – eine Abschreckungsmaßnahme gegenüber Russland sowie eine militärische Unterstützung für Litauen. Investitionen in die Infrastruktur, u. a. in den Bau von Wohnungen, Kindergärten und Schulen für die mitziehenden Familienangehörigen, sind geplant.

Dies alles erscheint unrealistisch: Schon jetzt hat die Bundeswehr Schwierigkeiten, neue Männer und Frauen zu rekrutieren, auch fehlt es an ausreichend funktionstüchtiger Ausrüstung. Mitziehende Familienangehörige bzw. Lebenspartner? Geht die Bundeswehr ernsthaft davon aus, dass es viele Familienangehörige geben wird, die bereit sind, nach Litauen mitzuziehen? Und noch wichtiger: Werden wirklich ausreichend Soldaten bereit sein, ihr Leben zu riskieren, um im Falle eines Angriffs, Litauen zu verteidigen. Ist es wirklich realistisch, dass die anderen NATO-Mitgliedstaaten Litauen ebenfalls verteidigen werden; alles im vollen Bewusstsein, somit einen 3. Weltkrieg zu riskieren?

 

Auch das scheint ein Teil einer ganz großen Show zu sein, um die Angst vor Russland in der Bevölkerung weiter zu schüren, neue Militärausgaben und Waffenlieferungen zu rechtfertigen sowie die globale Rüstungsindustrie mit neuen Aufträgen zu versorgen.

 

Geschickt ist auch die öffentlich-rechtliche Medienarbeit: Militärparaden, Musik, Bundeswehr und Soldaten werden bewundert und bejubelt – wie kürzlich in Litauen geschehen. Militärparade, bewundert und bejubelt werden sind nur ein Aspekt im Alltag der Bundeswehrsoldaten.

Was nicht gezeigt wird, ist, was es eigentlich bedeutet, im Krieg zu sein und zu kämpfen. Was nicht gezeigt wird sind die wahren Bilder vom aktuellen Schlachtfeld in der Ukraine. Wir sehen zerstörte Landschaften und Städte, aber kein Blut, keine Verstümmelungen, wir hören nicht die Schreie der Verletzten, die um ihr Leben ringen, wir sehen keine verzweifelten Soldaten, keine toten Männer, Frauen und Kinder. Wir sehen nur „Helden“ überall. Zahlreiche Militärexperten werden interviewt. Leichtfertig spricht man über die technologischen Vorzüge des Marschflugkörpers Taurus. Einige Experten sprechen sogar von dem letzten Sommer im Frieden, den wir in Europa haben werden.

 

 

Über Sprache ist alles möglich – Identitäten des Herzens schaffen

 

Über Sprache ist alles möglich. Sprache kann Unheil vorherbringen, aber auch viel Gutes bewirken. Um Kriegen entgegenzuwirken und um Harmonie zu schaffen, kann das Beherrschen von Fremdsprachen ein guter Weg sein. Sprache fördert Verständnis, erweitert das Wissen über fremde Länder, über Menschen und Kultur.

 

Lange habe ich in Frankreich gelebt, dort studiert – ich wurde in diesem Land quasi sozialisiert. Nur das Beherrschen der französischen Sprache hat mir den Zugang zu den Franzosen ermöglicht. Damit standen mir in Frankreich alle Türen offen. Ich weiß, wie die Franzosen „ticken“ – was andere manchmal zur Weißglut treibt, bringt mich stattdessen zum Lachen oder lässt mich liebevoll den Kopf schütteln.

Als Deutsche identifiziere ich mich nicht nur mit Deutschland, sondern auch mit Frankreich, eine meiner Identitäten des Herzens.

 

Dabei, Spaltungen zu überwinden, könnte uns vielleicht die Sicht des französischen Geopolitikers Jacques Ancel helfen. Im Mittelpunkt von Ancel’s Theorie steht der einzelne Mensch. Der Mensch, als der Schöpfer, der Identitäten schafft, wo „menschliche Gruppen schließlich ein harmonisches Gleichgewicht erreichen und Grenzen anerkennen, die sich aus einer gemeinsamen Erinnerung, Sprache, Geschichte und Kultur ergeben“. Es entwickelt sich eine Identität des Herzens sowie eine Nation des Herzens. Ancel zufolge sind es vor allem die spirituellen Faktoren, die nicht „greifbaren“ Faktoren, die uns und unsere Außenwelt bestimmen. Nur eine Nation, die fest in sich verankert ist, schafft Harmonie und Verbundenheit.

Wir sind alle miteinander verbunden, gesellschaftliche Spaltungen gibt es nicht.

Nichtsdestotrotz geht die große Show in Europa weiter: Fronten werden aufgebaut und Spaltungen in der Gesellschaft befeuert.

 

 

Unsere gemeinsame Reise von tausend Meilen

 

Die längste Reise, auch eine Utopie, beginnt mit dem ersten Schritt, oder, wie der Philosoph Laotse treffend bemerkte: „Auch ein Turm, der einmal neunstöckig werde, erhebt sich aus einem Häufchen Erde.“

Das gilt auch für die neue Zeit. Wir müssen mit dem ersten Schritt beginnen, wenn wir die multipolare Weltordnung aktiv gestalten wollen. Es ist eine völlig normale Entwicklung, dass Länder wie u. a. China, Russland und Indien, ja die gesamten BRICS-Staaten, nun mit auf die Weltbühne treten. Nicht nur die Hegemonie der USA ist beendet. Auch die EU und die NATO, beide Relikte aus der Nachkriegszeit, haben ausgedient.

 

 

Europa, aber nur mit Russland

 

Nur eine friedliche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit, gegenseitige Rücksichtnahme auf die Interessen des anderen und ein friedliches Zusammenleben, insbesondere mit Russland, sichert den Wohlstand in Europa. Daher müssen die zerstörten Brücken zu Russland wiederaufgebaut werden und teilweise radikale Reformen angestoßen werden.

Der Kontinent Europa umfasst mehr als die jetzigen Außengrenzen der EU. Russland, als größtes Land der Erde, erstreckt sich von Osteuropa bis nach Nordasien. Der Ural ist die Grenze zwischen Europa und Asien. Ist das nicht eine große Chance für die eher kleinkarierte EU, größer und weiter denken zu dürfen? Die aktuellen EU-Strukturen fördern nur mehr Bürokratie, erschweren die wirtschaften Aktivitäten und ersticken jegliche Kreativität.

 

Wir sollten radikale Reformen anstoßen, um zurück zu den Strukturen der ehemaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) zu kommen. Das bedeutet Verschlankung sowie Abbau von wirtschaftlichen und politischen EU-Strukturen sowie resultierende Freisetzungen der überflüssigen EU-Bürokraten. Wir sollten die Entscheidungen zurück zu den nationalen demokratischen Prozessen verlegen.

Brüssel ist weit weg. Nähe muss wieder geschaffen werden zwischen Bevölkerung und Volksvertretern. Die Europäer sollten in allen wichtigen Entscheidungen in ihren jeweiligen Ländern mit eingebunden werden, beispielsweise durch Volksabstimmungen. Wir müssen aktiv eine direkte Demokratie leben, so wie sie in der Schweiz praktiziert wird. Weg von der aktuellen EU-Technokratie, wieder hin zu einer lebendigen und offenen Demokratie auf nationalen Ebenen.

 

 

NATO auflösen

 

Wie so oft im Leben: Nachher ist man klüger. Hätte man die NATO, die nach dem 2. Weltkrieg als Verteidigungsbündnis gegen Russland etabliert wurde, nach der Wiedervereinigung Deutschlands 1989 nicht logischerweise auflösen müssen? Genauso konsequent, wie die russischen Truppen die ehemalige DDR verlassen haben, hätten auch alle alliierten Militärstützpunkte, insbesondere die US-Basis Ramstein, schließen und alle ausländischen Soldaten in ihre Heimatländer zurückgeschickt werden müssen.

Wie oft wurde schon über ein rein europäisches Verteidigungsformat gesprochen und nichts ist passiert. Nun ist es an der Zeit, dieses auch umzusetzen. Zeit, ein europäisches Verteidigungsbündnis nicht gegen Russland, sondern zusammen mit Russland zu schaffen.

Denn ohne Verteidigung, ohne Militär geht es leider (noch) nicht. Der Fokus aber sollte bei Unstimmigkeiten auf Diplomatie liegen und nicht auf militärischen Konflikten.

 

 

Private Initiativen, Foren, Plattformen aktivieren, ohne Staat

 

Einige Foren sind glücklicherweise noch vorhanden, wie beispielsweise der Petersburger Dialog, der einst 2001 von Schröder und Putin ins Leben gerufen wurde, um ein politisches und wirtschaftliches Netzwerk zwischen Deutschen und Russen zu schaffen. Mutige Menschen aus Politik und Wirtschaft leben diesen Dialog heute noch, wie geschehen im Mai 2025 in Baku oder in Kaliningrad. Denn nach wie vor sind die wirtschaften Interessen groß, in Deutschland und sowie in Russland. Nur die Wirtschaft schafft neue Wege und baut neue Brücken, die der Krieg einst eingerissen hat.

 

Mutig sollte auch das Weimarer Dreieck, ein Gesprächsforum zwischen Deutschland, Frankreich und Polen, das 1991 entstand, im damaligen Gründungsgeist reaktiviert werden. Es ist ein Forum, „das in einem Klima des europäischen Aufbruchs und der Freude über die Überwindung der Teilung Europas und Deutschlands begonnen hat“ (Hans-Dietrich Genscher 2006 im Deutschlandfunk). Eine Überwindung der Teilung Deutschlands und Europas übrigens, die ohne Russland nicht möglich gewesen wäre.

Das Weimarer Dreieck sollte nicht dazu dienen bzw. missbraucht werden, ein weiteres Forum gegen Russland aufzubauen, wie beispielsweise das Treffen der Verteidigungsminister aus Deutschland, Polen und Frankreich am 25.6.2024 in Paris – ein Treffen, das im Grunde nur dazu diente, sich bezüglich der Unterstützung der Ukraine abzustimmen.

 

Auch sollte der abgebrochene wissenschaftliche und kulturelle Austausch zwischen den europäischen Staaten und Russland wieder aktiviert werden. Gemeinsame Seminare und Veranstaltungen müssen wieder stattfinden. Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft leben vom Austausch mit anderen. Egal wie die großpolitische Wetterlage ist, alle wissenschaftlichen, politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Foren müssen gemeinsam mit Russland wiederbelebt werden. Reisen, Menschen treffen, sich austauschen – alles ohne „betreute staatliche Warnhinweise“. Es braucht keine staatlichen Institutionen. Es bedarf nur unserer Initiative.

 

Möglich wäre aber auch, der OSZE eine aktivere und zentrale Rolle im neuen Aufbau Europas zu ermöglichen. Die OSZE ist eine der wenigen Organisationen, deren Mitgliedstaaten die Kontinente Nordamerika, Europa, und Asien umfassen und Russland einschließen. Ganze 57 Staaten sind Mitglieder.

 

  

„Utopien sind nur vorzeitige Wahrheiten“ (Alphonse de Lamartine)

 

Es wird Zeit, dass der Westen endlich den Wunsch loslässt, immer an erster Stelle zu stehen. Und hier sollte Deutschland als Vorbild vorangehen. Durch seine geografische Lage in der Mitte Europas, durch seine Geschichte, durch seine Wirtschaftskraft sollte Deutschland aktiv verantwortlich Frieden schaffen, auf jegliche Waffenlieferungen verzichten und neutral bleiben.

Deutschland und die Deutschen sollten die Zusammenarbeit, insbesondere mit Russland, pflegen und hegen, völlig losgelöst von den Erwartungen der USA bzw. den Ängsten der Polen und der Balten. Die anderen europäischen Länder werden folgen – es muss nur der erste Schritt gemacht werden.

Auch sollte die „Gemeinschaft der Willigen“ aufgelöst werden. Sie ist ohnehin nur ein Format, das ein Mittel zum Zweck darstellt, um das Vetorecht der EU-Staaten geschickt zu umgehen. Denn nicht alle sind mit den Waffenlieferungen in die Ukraine einverstanden.

 

Es ist sicherlich eine Utopie, ein Wunschdenken. Aber eine Utopie, die für uns alle lohnend sein kann. Denn wie Oscar Wilde bemerkte: „Eine Weltkarte, die das Land Utopia nicht enthielte, wäre es nicht wert, dass man einen Blick auf sie wirft, denn in ihr fehlt das einzige Land, in dem die Menschheit immer landet.“

Unsere neue, multipolare Weltordnung ist eine große Chance für uns alle, ein friedvolles Miteinander zum Wohle aller zu fördern.

 

Eine lange Reise liegt vor uns. Aber es lohnt sich, diese Reise Schritt für Schritt anzugehen.

Es braucht Mut, Fantasie, Humor sowie Gelassenheit.

 

 

 

Leseempfehlung, nicht nur für Utopisten

Ancel, Jacques (1938):  Géographie des frontières, Gallimard, Paris.

Banik, Katja (2025): The Great Chance of Multipolarity, www.katjabanik.com.

Banik, Katja (2024): Let’s reach out to Russia – for the sake of peace. Overcoming a “bloc mentality” and ideological firewalls, www.katjabanik.com.

Berliner Zeitung (2025): Petersburger Dialog: Deutsch-russische Plattform lebt auch ohne deutschen Staat, 17.05.2025.

Brzezinski (1997): The Grand Chessboard, Hachette Group, Basic Books (USA).

Chen, Chao-Hsiu (2001): Lächelnde List, Hugendubel Verlag, Kreuzlingen/München.

Dohnanyi, Klaus (2022): Nationale Interessen, Siedler Verlag, München.

Donelaitis, Kristijonas (1765-1775): Die Jahreszeiten, C.H. Beck, 2021.

Kant, Immanuel (1795): Zum ewigen Frieden, Surkamp Verlag, Berlin

Lamszus,Wilhelm (1912): Das Menschschlachthaus, Alfred Janssen Verlag, Hamburg/Berlin.

Laßwitz, Kurd (1919): Asperia – der Roman einer Wolke, Verlag von Elischer Nachfolger, Leipzig.

Laßwitz, Kurd (1919): Sternentau – die Pflanze vom Neptunmond, Verlag von Elischer Nachfolger, Leipzig.

 

 Original in englischer Sprache veröffentlicht bei RIAC

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